Über das Gedächtnis oder: Eine Rekonstruktion der Rekonstruktion
Abb. 1
Das sogenannte Gedächtnis ist, wann auch immer wir im Leben mit "etwas" zu tun haben, von herausragender Bedeutung. Es gäbe nichts, könnten wir uns an nichts erinnern. Es gäbe keine erinnerten Begriffe, keine Vorstellungen im Inneren - von "nichts". Es gäbe auch keine Psychotherapie (noch nicht einmal eine "Psyche", von der sinnvoll gesprochen werden könnte), gäbe es kein Gedächtnis. Denn was sollte uns noch aus "der Vergangenheit" belasten, könnten wir uns an "nichts" erinnern? Wovor sollten wir uns "in Zukunft" fürchten?
Es gäbe keine "Geschichte", keine "Vergangenheit", noch nicht einmal eine "imaginierte Zukunft". Von niemandem. Und auch vom "Hier-und-Jetzt" könnte ich nicht sprechen, hätte ich diese Begriffe nicht erlernt, nur um sie später wieder gebrauchen zu können. Sie machen für mich gerade "Sinn". Ich bin in der Lage meine Finger auf regelhafte Weise zu gebrauchen, nicht irgendwie, nicht losgelöst von bereits erlernten Bewegungsabläufen. Mein Körper bewegt sich nicht irgendwie - er bewegt sich vielmehr regelhaft. Ich weiß, wie ich meinen Kopf nach links drehen kann. Wo "links" gerade für mich ist. Wir wiederholen und wiederholen und wiederholen. Und damit könnte man auch sagen - wir erinnern und erinnern und erinnern uns.
Was auch immer jemand sagt oder nicht sagt, tut oder nicht tut - es muss innerlich "begriffen" und "bewertet" werden, um als "positiv", "neutral" und/oder "negativ" erlebt werden zu können. Und um etwas "bewerten" zu können, muss ich das Erlebte mit "etwas anderem" zu vergleichen in der Lage sein. Es muss ein "inneres Raster" geben, auch um das "Angenehme" vom "Unangenehmen" zu unterscheiden.
Kein sog. "Gedächtnis" zu haben, wie es beispielsweise Menschen mit Alzheimer-Demenz unterstellt werden kann, wird als problematisch angesehen. Denn wer bin ich noch, wenn ich nicht mehr zu wissen scheine, wer ich bin und mich auch an meine Kinder und Kindeskinder nicht zu erinnern in der Lage bin?
Ein sog. "gutes Gedächtnis" wiederum gilt als Voraussetzung, um anspruchsvolle Ausbildungen absolvieren zu können, um dicke Schinken auswendig wiedergeben zu können und um Zusammenhänge zwischen komplexen Vorgängen zu begreifen. Wenn ich "etwas" sofort wieder vergessen habe, kaum habe ich es gelesen, wie soll ich es dann mit "etwas anderem" geistig "zusammendenken" können? Wie sollte ich den Inhalt eines - auch nur kurzen - Textes begreifen, wenn ich sofort vergesse, was ich gelesen habe?
Gemeinhin, das heißt einem naiv-realistischen Weltbild folgend, wird davon ausgegangen, dass das "Gedächtnis" eine Art interner Speicher ist (meist wird hierbei auf das Gehirn eines Organismus referiert), eine Art "Behälter", in dem etwas "abgelegt" wird, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder "abgerufen" werden zu können. Ob bewusst, oder unbewusst. Diesem doch etwas naiven Zugang möchte ich eine non-dualistische Perspektive gegenüberstellen, die meines Erachtens weitaus stimmiger den Gegenstand zu fassen in der Lage ist.
"Non-dualistisch" bedeutet in diesem Kontext, dass das Objekt der Beobachtung oder Beschreibung (wobei unter "Objekt" jeder Gegenstand oder Sachverhalt gemeint sein kann) nicht unabhängig von BeobachterInnen zu denken ist, die etwas gerade so und nicht anders beschreiben. Dem "Gedächtnis" kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, weil wir schließlich stets auf "etwas" zurückgreifen, das wir bereits zu "besitzen" meinen, selbst wenn wir den einfachsten Begriff - wie "etwas" - gebrauchen.
Abb. 2
Wie ist also möglich, dass wir "etwas" immer wieder "wiederholen" können - wie geht das genau vor sich? Hierbei denke ich das "Gedächtnis" nicht unabhängig von meinen Beschreibungen, ich beschreibe somit meine Beschreibungen beim Versuch das "Gedächtnis" zu begreifen simultan mit.
Ich rekonstruiere wie ich "etwas" beschreibe, während ich es beschreibe - und auf diese Weise entsteht ein anderes Verständnis des Gegenstands als bei einer naiv-realistischen Voraussetzung desselben unter Missachtung der BeobachterInnenperspektive.
Wenn ich etwas beschreibe und dabei nicht außer Acht lasse, wie ich dieses "etwas" beobachte und beschreibe, welche Voraussetzungen meiner Beschreibung zugrunde liegen, ist offensichtlich, dass es für diese Beschreibung einen bestimmten definierten Kontext braucht. In einem anderen Kontext verändert sich auch das Objekt der Beobachtung.
Es ist daher von fundamentaler Bedeutung, stets den Kontext im Blick zu haben, den wir setzen, sobald wir etwas beschreiben - in diesem Fall das sogenannte menschliche "Gedächtnis" (ich werde mich auf Menschen beschränken) - und wir werden sehen, zu welchen Erkenntnissen diese Art der beschreibenden Rekonstruktion uns führt.
Das Zeichen-Gedächtnis:
Etwas "zu erinnern" bedeutet, etwas im Hier-und-Jetzt "wiederherzustellen". Wir stellen permanent "etwas" wieder her und wir können uns dabei auf bereits Hergestelltes verlassen, es verschwindet in den meisten Fällen auch morgen oder übermorgen nicht. Ich nenne diese Form des Gedächtnisses das "Zeichen-Gedächtnis", wobei das nicht bedeutet, dass sich das Gedächtnis im Außen befindet - schließlich dürfen wir niemals den beobachtenden Beobachter vergessen (siehe oben). Aber das A auf der Tastatur, das mir lesend als A erscheint (!), verschwindet auch morgen oder übermorgen nicht. Ich kann auf "es" zurückgreifen. Ein Großteil unseres sogenannten "Gedächtnisses" basiert auf Informationen, die wir im Hier-und-Jetzt in der Interaktion mit dem Außen wiederherstellen. Sie sind daher nicht im Inneren des Menschen abgelegt! (siehe Abb. 3).
Abb. 3
Wir greifen im Hier-und-Jetzt auf "etwas" zu, das wir im mit "Sinn" aufladen. Nur weil wir etwas mit "Sinn" aufladen, heißt das aber nicht, dass der "Sinn" in den Bildern und Zeichen "an sich" vorhanden ist. Vielmehr erzeugen wir diesen Sinn in jedem singulären Moment auf ein Neues.
Wir erkennen Menschen, die wir bereits einmal mit "Sinn" beladen habe, wieder. Wir geben Ihnen "Namen" (hier in diesem Beispiel "Andrea"). Das heißt aber nicht, dass es im "Inneren" des Menschen eine 1:1 Repräsentation dieser Bilder gibt, vielmehr können wir - sind wir zeichnerisch talentiert - diese Bilder im Außen wieder "reproduzieren". Wir können "etwas" im Außen wieder entstehen lassen, indem wir Zeichen auf einer Tastatur antippen oder auch freihändig auf ein Blatt Papier bringen.
So bleibt "etwas" im Außen erhalten, für andere jederzeit wieder nachvollziehbar, so sie die Art der Betrachtung gelernt haben, die auch ich gerade anwende. Diese Art des Gedächtnisses sorgt für nachhaltige Stabilität, zumindest solange das "Medium" existiert, das die "Zeichen" trägt.
Gemäß einer "Kybernetik zweiter Ordnung" (Beobachtungen beobachtend) ist einleuchtend, dass diese "Zeichen" durch den Akt der Beobachtung zu "Zeichen" im Hier-und-Jetzt werden, sie uns aber schließlich doch als "sehr stabil" erscheinen, ja - irgendwann könnten wir sogar der Meinung sein, dass sie "absolut" existieren, unabhängig von uns. Wir vergessen nur allzu gerne, was wir schon alles so und nicht anders (!) zu sehen gelernt haben.
So auch unseren eigenen Körper. Wir haben ihn bereits als "Körper" zu begreifen gelernt und er erinnert uns täglich auf ein Neues an seine Existenz, einfach indem wir ihn permanent begreifen können und er auch von Außen begriffen und berührt wird. Wir spüren den Boden unter unseren Füßen - zumindest in den meisten Fällen (wenn wir nicht gerade springen oder fliegen, ob vom Himmel, vom Stuhl o.ä.). Das bringt mich zum "Körper-Gedächtnis".
Das Körper-Gedächtnis:
Ähnlich wie "Zeichen" im Außen berührt werden können und uns diese dann daran erinnern, dass es das "A-B-C" in der Welt gibt (und nicht das ABC), so erinnert uns das Berühren des eigenen Körpers daran, dass es diesen gibt - könnten wir ihn nicht berühren, spürten wir uns nicht, so wären wir inexistent. Aber wir spüren uns, und das gibt uns ein Gefühl des Daseins.